Hoyerswerda 1991: Bundestagsdebatte. Heute: Dr. Dietmar Matterne (SPD)

Dr. Dietmar Matterne, Bundestagsabgeordeneter aus Cottbus für die SPD. Er schilderte die Erlebnisse aus seiner Sicht. Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0709-323 / CC-BY-SA

Dr. Dietmar Matterne, Bundestagsabgeordeneter aus Cottbus für die SPD. Er schilderte die Erlebnisse aus seiner Sicht. Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0709-323 / CC-BY-SA

Im September 1991 erlangte unsere Heimatstadt Hoyerswerda traurige Berühmtheit. Nachdem über mehrere Tage hinweg gewalttätige Auseinandersetzungen vor dem Vertragsarbeiterwohnheim und dem Asylbewerberheim wüteten, präsentierten sich hunderte Hoyerswerdaer als begeistertes Klatschvieh und lieferten die passende Untermalung für die nach Sensationen gierende Presse.

Das Bild der Stadt ist seitdem für immer geprägt von den Bildern einer dumpfen Masse, die applaudiert, wenn ein Stein die Fensterscheibe getroffen hatte.

Natürlich war das auch das bestimmende Thema im Deutschen Bundestag. Nur zwei Tage, nachdem die Asylbewerber vor laufenden Kameras und der geifernde Meute, die direkt vor dem Asylbewerberheim wartete, abtransportiert wurden, gab es eine sogenannte aktuelle Stunde. Wir wollen in den kommenden Tagen einige Reden beispielhaft aus dem Archiv kramen, damit man sich noch einmal ein Bild von den Reaktionen im Parlament machen kann.

Nachdem wir zum Auftakt den Bundestagsabgeordneten Ulrich Klinkert (CDU) im Angebot hatten, lesen wir heute die Widerrede vom Cottbuser SPD-Abgeordneten Dr. Dietmar Matterne. Es handelt sich hierbei um das Protokoll der Stenographen, die auch die Zwischenrufe soweit möglich mit notiert haben.

Dr. Dietmar Matterne (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die bedrückenden Geschehnisse in der sächsischen Stadt Hoyerswerda sind leider nicht zufällig. Sie sind sicher noch nicht beendet und nicht auf diese Stadt beschränkt. In dieser absolut künstlichen Stadt des Sozialismus, gelegen am „Tal der Ahnungslosen“ — für die vielleicht hier anwesenden Ahnungslosen aus den westlichen Gebieten: so wurden Gebiete genannt, in denen Westfernsehen und -rundfunk relativ schwach empfangen werden konnten — , unweit der polnischen Grenze gelegen, kumuliert vieles, was Intoleranz und Ausländerfeindlichkeit begünstigt.

In einer seit jeher strukturarmen Gegend, abseits vom Reiseverkehr und abgeschnitten von jeglicher Kommunikation mit dem Westen, hatte der SED-Staat Monokulturen zur Blüte getrieben: dominierende einseitige Braunkohlewirtschaft, z. B. im Gaskombinat „Schwarze Pumpe“ ; uneffektive Landwirtschaft auf kargen Böden; dafür ein konzentriertes Militärpotential und eine nun kaum noch marktfähige Glas- und Textilindustrie.

90 % der Bevölkerung wohnen in den bekannten trostlosen Betonsilos. Die Infrastruktur sowie das hierfür erforderliche mittelständische Gewerbe sind stark unterentwickelt. Auch dies begünstigt Fehlverhalten, schafft Aversionen, wie sie uns in diesen Tagen in den Medien vor Augen geführt wurden.

Verschärft wird die Situation durch die Perspektivlosigkeit weiter Teile der Bevölkerung. Der angekündigte Wegfall von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die verstärkte Arbeitslosigkeit von Jugendlichen und die falsche Finanzpolitik der Bundesregierung haben Sachsens Bürger hart getroffen.

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor für die Ausschreitungen gegen ausländische Mitbürger ist schließlich auch die Überforderung der örtlichen Polizeikräfte, die alles in ihren Kräften Stehende getan haben. Aber offensichtlich war auch der sächsische Innenminister total überfordert, denn er brauchte ja Hilfe von seinem Ministerpräsidenten.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!)

Seit der Vereinigung hat die Kriminalität im Osten Deutschlands drastisch zugenommen. Diebstähle, Körperverletzungen, Umweltdelikte und Verkehrsrowdytum sind an der Tagesordnung. Die schon rein zahlenmäßig viel zu schwach ausgestattete Polizei steht dem hilflos gegenüber. In der Bevölkerung wird diese Hilflosigkeit der Polizei, für Recht und Ordnung zu sorgen, mit wachsender Unruhe zur Kenntnis genommen. Wo Recht und Ordnung nicht durchgesetzt werden können, steigt die Kriminalitätsrate, wird Selbstjustiz geübt und randaliert.

Ausländerfeindlichkeit in dieser Dimension könnte aus der Perspektive der westlichen Bundesländer als Krankheit begriffen werden. Behandeln wir die Symptome, brauchen wir mehr Polizei.

Die Bundesregierung ist gemäß Einigungsvertrag verpflichtet, die neuen Länder bei der Ausstattung mit einer funktionierenden Polizei zu unterstützen.

Wollen wir aber die Ursachen der Ausländerfeindlichkeit bekämpfen, so ist viel mehr zu tun:

Erstens. Begreifen wir, daß dort nicht nur ein politisches, sondern auch und in erster Linie ein wirtschaftliches
Krisengebiet existiert!

Zweitens, Kommunikation, Kultur und Bildung sind nach 40 Jahren Vernachlässigung überproportional zu entwickeln.

Drittens. Beheben wir die extreme Perspektivlosigkeit in der Arbeitswelt durch Schaffung qualifizierter Ausbildungs- und Arbeitsplätze!
Viertens. Die Stadt Hoyerswerda zwingt sich geradezu als Modellfall auf: Aus einer tristen Betonsilolandschaft des real praktizierten Sozialismus ist eine menschenfreundliche und den sozialen Bedürfnissen ihrer Bewohner gerecht werdende Wohnlandschaft zu schaffen. Es muß darauf geachtet werden, daß an unserer östlichen Grenze nicht eine ganze Region vernachlässigt wird, daß hier die deutsche Einheit nicht ein paar Jahre später kommt oder sich gar ein dauerhaftes Zonenrandgebiet entwickelt. Hoyerswerda darf nicht zum Signal für weitere böse Taten werden.

Die schnelle Lösung der Asylfrage ist sicher dringend erforderlich und eine vorrangige Aufgabe.

(Beifall bei der SPD — Beifall bei der CDU/CSU)

Hiermit untrennbar verbunden ist die Notwendigkeit, Bürger zur Toleranz im Zusammenleben mit Menschen anderer Kulturen zu überzeugen. Die Sorgen und Nöte der Bürger dürfen kein Ventil in der Ausländerfeindlichkeit finden.  Vielmehr muß den Menschen im Osten eine Perspektive gegeben werden.

Ich appelliere an die Bundesregierung, auf das Gesamtproblem sensibel, rasch und effektiv zu reagieren. Danke schön.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

FAZIT: Schon hier zeichnete sich 1991 eine „Große Kolaition“ der „Willigen“ ab, die das Asylrecht verändern wollen. Beifall der CDU/CSU, als der SPD-Mann eine Lösung der Asylfrage anspricht. Ansonsten verweist der Cottbuser darauf, dass die Menschen das Gefühl bekommen, abgehängt zu sein. Die Region um Hoyerswerda sei in erster Linie ein wirtschaftliches Krisengebiet, die extrem Perspektivlosigkeit müsse behoben wrden durch Schaffung qualifizierte Arbeits- und Ausbildungsplätze. Das hat leider nie funktioniert und so schrumpfte Hoyerswerda binnen weniger Jahre auf deutlich weniger als die Hälfte der Einwohnerschaft und wird es auch weiterhin tun.

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