Wenn in Hoyerswerda in den vergangenen Jahren etwas Konjunktur hatte, dann war es die Abrissbranche. Viele tausend Wohnungen in Plattenbauweise, vorzugsweise aus den 80ern wurden schon abgerissen. Bis 2020 sollen über 10000 Wohnungen „rückgebaut“ sein – so nennt man hier den brutalen Abriss mit dem die ostsächsische Stadt versucht, dem extremen Bevölkerungsschwund Herr zu werden. Lebten hier in den Achtzigerjahren noch über 70000 Menschen, sind es nun 35000 – trotz vieler Eingemeindungen. Und in den nächsten zehn Jahren könnten es nur noch 25000 Einwohner sein. Aktuell auf der Abrissliste: Der Wohnblock in der Gerhard-von-Scharnhorstraße mit den Hausnummern 7-17.
Dieser Bericht ist so heute in gekürzter Form auch in der Lausitzer Rundschau und der Sächsischen Zeitung erschienen. Hier habe ich den originalen Rohtext online gestellt und um einige zusätzliche Fotos angereichert.
Gleich vorab noch der Hinweis: Die beiden Großvermieter Lebensräume und Wohnungsgesellschaft sehen es alles andere als gern, wenn in ihren Abrisshäusern herumgeklettert wird oder Leute alles mitnehmen, was nicht niet- und nagelfest ist. Diese Gebäude und alle Inhalte sind deren Eigentum. Des weiteren sind die Gebäude auch deutlich erkennbar abgesperrt – das war an diesem Sonnabend allerdings anders…
Es ist Sonnabendmittag. Auf den Straßen sind keine Autos unterwegs und eine gespenstische Stille herrscht, wo vor Jahren noch Kinder spielten, Anwohner die kleinen Vorgärten und Männer ihre Autos pflegten. Da wo Wohnblocks dicht an dicht standen, finden sich weite Rasenflächen und ganz vereinzelt steht noch ein Wohnblock. Und wenn man genau aufpasst, sieht man den Abrissblock. 10 Aufgänge, 100 Wohnungen, Baujahr 1975. Doch etwas stört die Idylle an diesem regnerischen Sonnabend. Fenster und Türen sind herausgerissen, die Briefkästen teilweise aufgebrochen und ein Bauzaun sichert das Gelände nur notdürftig ab, denn viele Zaunsegmente sind weit geöffnet. Und auffällig viele Autos und Fahrräder stehen hier rum. Ein Geländefahrzeug mit Anhänger steht vor der Nummer 7. Am anderen Ende stehen Autos mit Cottbusser und Forster Nummernschild. In großen Schuttcontainern stapelt sich der Schrott aus den im Novemberregen noch grauer wirkenden Betonburgen. Wenn man näher kommt hört man aber Geräusche. Hier wird gearbeitet – an einem Sonnabend? Viele unterschiedliche Menschen werkeln hier. Da sind zwei ältere Herren, die die Wohnungen gezielt nach noch nicht herausgebrochenen Fenstern durchsuchen. Schnell kommt man ins Gespräch. Der Ältere: „Ich habe ein altes Haus gekauft. Da sind die Holzfenster schon alle durchgefault und hier schmeißen die die neuen Plastefenster einfach weg.“ Auf den Einwand hin, dass die ja auch schon abgenutzt sind, erwidert er nur: „Für mich reichen die aus. Guck mal, die sind doch alle noch gut.“ Hinter uns geht eine Mutter Anfang 30 mit ihren beiden Kindern entlang: „Macht schnell, da hinten war noch schönes Spielzeug.“ Sie will nicht reden. Ihr ist es sichtlich peinlich, Liegengelassenes einzusammeln. Doch davon findet sich in dem Wohnblock eine Menge.
Ich streife allein durch die Wohnungen im Eingang, der mal die Hausnummer 15 trug. Was ins Auge fällt: Nicht nur Fenster und Türen fehlen, auch die Heizkörper und Badewannen wurden überall herausgerissen. Man hört im ganzen Haus Schritte, sieht und hört aber keine anderen Personen. In der ersten Wohnung prangt ein gemalter Playboy-Hase an der Wand. Ein alter Stuhl steht im Raum mit Blick aus dem Fenster – früher blickte man von hier aus direkt auf einen Kindergarten, der steht schon lange nicht mehr. Heute sieht man Bäume, Sträucher, Grasflächen und in der Ferne einen noch stehen gebliebenen Gebäudezug, mehrere hundert Meter lang. Auch sie werden bald fallen.
Die Nachbarwohnung wirkt, als haben sie die Bewohner wie auf der Flucht verlassen. Im Kinderzimmer steht noch der Kinderhochstuhl, Spielzeuge und Kindersachen für Jungs und Mädchen liegen verstreut auf dem Boden herum. Die Küche in rot gehalten ist bis auf die Schränke und Einbaugeräte noch komplett erhalten. Ein Tresen, Regale aus Glasscheiben hängen an der Wand. Im Wohnzimmer steht ein alter Stuhl und eine blaue, gut erhaltene Couch, darauf liegen Astronomie-Bücher – der Schluss liegt nahe: Hier wohnte ein Sternenfreund.
Im Schlafzimmer liegt allerlei Unrat herum, auch eine Tasche mit Diafilmen. Beschriftet sind sie mit Weihnachten 1984, vier Streifen Farbfotos aus einer Zeit, als in diesem Wohnkomplex noch das Leben tobte. Obwohl die Wohnblocks von außen doch alle so gleich aussehen, jede Wohnung ist auch nach dem Auszug der Mieter eigen. Der Eine hatte sein Bad mit Spiegelfliesen verschönert, Andere haben noch alte DDR-Tapeten an der Wand. Der Nächste hat seine Wohnung besenrein hinterlassen, alle Tapeten entfernt – irgendwie schade um die Mühe!
Ganz vorn am Block, da wo mal ein elfgeschossiges Hochhaus stand, in der Hausnummer 7 haben sich nach dem Auszug der Mieter offensichtlich ganz andere Mieter eingefunden. Bierbüchsen liegen am Fußboden, in einigen Wohnungen sind Sitz- und Schlafgelegenheiten zusammengestellt. An den Wänden finden sich Verzierungen der besonderen Art. Hier wurde das „Galgenmännchen“ gespielt. Begriffe wie Nussbaum oder Weinrot waren zu erraten. Das Männchen hängt komplett – offensichtlich wurden sie nicht erfolgreich gelöst. An einer anderen Wand wurden die Ergebnisse der Fußball-Weltmeisterschaft in diesem Sommer kommentiert: „Germany sucks!“, „Loser.“ Es gab wohl ein Leben nach dem Leben im alten Plattenbau.
Und in einer Wohnung wird es ganz nostalgisch: Da findet sich noch eine DDR-Schrankwand mit bekannten braunen Holzlasurimitat. Die Türen stehen offen, und kistenweise Endlos-Computerpapier liegt auf dem Boden. Ein RFT-Fernseher „Colortron“ steht in der Schrankwand und darüber hängt eine Deckenpendelleuchte im 70-er-Jahre-Look. Vom Fenster aus blickt man auf eine grüne Wiese. Hier stand mal ein Busbahnhof, der viele tausend Arbeiter tagtäglich in drei großen „Wellen“ ins nahe Braunkohlekombinat Schwarze Pumpe brachte. Und auch in den Kellern ist Leben. Hier suchen zwei Männer nach Verwertbarem. Stolz präsentiert ein Mittfünfziger seine „Beute“: ein altes Kinderfahrrad. „Sogar komplett, mit Rädern.“ Auch in den dunklen Kellerräumen weht der kalte Wind, wie überall im Haus. In einem Kellerabteil stehen alte Kochtöpfe. Daneben viele Fernseher, für die sich bisher offensichtlich noch kein Abnehmer gefunden hat.
Als ein Transporter einer Abbruchfirma vorfährt, kommt richtig Leben in den Block. Denn nun rennt an einer Stelle ein alter Mann um die Sechzig mit zwei Fensterbrettern zu seinem Fahrrad und fährt Richtung WK X. Eine junge Frau springt zu ihrem roten Golf und braust davon. Die Herren mit Ihren Fenster bleiben noch gelassen. Die Abriss-Profis sprechen diejenigen an, die sie noch antreffen: „Können Sie mir bitte erzählen, was Sie hier machen!“ Nun nehme auch ich meine Beine in die Hand.