Hoyerswerda 1991: Bundestagsdebatte. Heute: Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste)

Hoyerswerda 1991: Bundestagsdebatte. Heute: Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste)  - Bildquelle:  Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-042 / Link, Hubert / CC-BY-SA

Hoyerswerda 1991: Bundestagsdebatte. Heute: Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste) – Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-042 / Link, Hubert / CC-BY-SA

Im September 1991 erlangte unsere Heimatstadt Hoyerswerda traurige Berühmtheit. Nachdem über mehrere Tage hinweg gewalttätige Auseinandersetzungen vor dem Vertragsarbeiterwohnheim und dem Asylbewerberheim wüteten, präsentierten sich hunderte Hoyerswerdaer als begeistertes Klatschvieh und lieferten die passende Untermalung für die nach Sensationen gierende Presse.

Das Bild der Stadt ist seitdem für immer geprägt von den Bildern einer dumpfen Masse, die applaudiert, wenn ein Stein die Fensterscheibe getroffen hatte.

Natürlich war das auch das bestimmende Thema im Deutschen Bundestag. Nur zwei Tage, nachdem die Asylbewerber vor laufenden Kameras und der geifernde Meute, die direkt vor dem Asylbewerberheim wartete, abtransportiert wurden, gab es eine sogenannte aktuelle Stunde. Wir wollen in den kommenden Tagen einige Reden beispielhaft aus dem Archiv kramen, damit man sich noch einmal ein Bild von den Reaktionen im Parlament machen kann.

Nachdem wir zum Auftakt den Bundestagsabgeordneten Ulrich Klinkert (CDU) im Angebot hatten, danach den Cottbuser SPD-Abgeordneten Dr. Dietmar Matterne und zuketzt den FDP-Politiker Dr. Burkhard Hirsch, kommt heute Dr. Grgeor Gysi zu Wort, anerkannter Redner der (damals) PDS, heute Linkspartei. Es handelt sich hierbei um das Protokoll der Stenographen, die auch die Zwischenrufe soweit möglich mit notiert haben.

Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was mich so besonders erschüttert, ist, wenn man die Zeitungen liest und auch wenn man einige Politiker hört: Es fehlt eigentlich die Scham, und es fehlt der Aufschrei.

(Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Schämen Sie sich denn für Ihre Leute? — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie sollten sich schämen!)

— Es ist Ihnen wirklich unbenommen, mich als Inkarnation alles Bösen auf dieser Welt hinzustellen, aber Sie werden es nicht schaffen, mich zum Symbol der Ausländerfeindlichkeit zu machen. Das werden selbst Sie nicht hinbekommen.

(Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Ich habe Sie nur gefragt, ob Sie sich für Ihre Leute schämen! — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Gysi als der Nachlaßverweser des Bösen!)

Ich will Ihnen sagen: Was hier in diesem Land fehlt, ist ein Aufschrei. In Frankreich wurden jüdische Friedhöfe geschändet, und anschließend gab es eine Demonstration hunterttausender französischer Bürgerinnen und Bürger mit Präsident Mitterrand an der Spitze.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Ich frage mich: Weshalb ist es so unvorstellbar, daß hier nach einem solchen Ereignis eine Solidaritätsdemonstration
für unsere ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, eine Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus und Neofaschismus, an der Spitze mit dem Herrn Bundespräsidenten, mit der Frau Bundestagspräsidentin und mit dem Bundeskanzler stattfindet?

(Detlev von Larcher [SPD]: Weil man damit keinen Wahlkampf machen kann!)

Das ist völlig undenkbar. Das sagt eine Menge aus über das Klima in diesem Land. Sie können das drehen und wenden, wie Sie wollen: Die Debatte und die Art der Debatte über das Asylrecht, über die Vorstellungen zur Änderung des Grundgesetzes, die Vokabeln von „Das Boot ist voll“, „Scheinasylanten“, „Wirtschaftsflüchtlinge“ bis hin zur „vermischten und durchrassten Gesellschaft“, einer Vokabel von Herrn Stoiber, das alles nährt Ausländerfeindlichkeit,
das alles verschlimmert diese Probleme enorm. Ich finde es ziemlich unerträglich, mit welch unterschiedlichem Maß gesprochen wird.

(Zuruf des Abg. Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU])

— Hören Sie auf dazwischenzurufen, dann lernen Sie auch, mal zuzuhören! An der Ausländerpolitik der SED habe ich eine Menge auszusetzen und auch schon immer auszusetzen gehabt. Trotzdem kriegen Sie das so billig nicht hin. Sie lebten damals immerhin noch sicherer als heute.

(Lachen bei der CDU/CSU — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sicher und ruhig wie auf einem Friedhof!)

Das ist eine Tatsache. Ich füge hinzu: Sie können der SED ja viel vorwerfen, aber in Saarlouis und in Münster hat sie nun einmal nicht regiert. Das wäre mir völlig neu. Da haben Sie Was mich noch mehr erschüttert, ist: Wenn es solche
gewalttätigen Ausschreitungen gibt, dann wird die Lösung darin gesucht, daß man sagt: Ja, es sind wirklich zu viele, da muß endlich was weg, da muß man helfen. — Das ist eine Argumentationsschiene, die bei der CDU/CSU sonst nicht gilt. Ich kann mich an riesige Demonstrationen gegen Atomenergie und ähnliches erinnern. Ich habe nie gehört, daß gesagt worden ist: Dann müssen wir sie eben abschalten. Vielmehr wurde da gesagt: Wir werden die Gegner mit polizeilichen Mitteln schon zurückhalten.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Und ich füge hinzu: Schon wenn man in dieser Frage auch nur die Andeutung des Nachgebens rüberbringt, wenn man anfängt, mit Kofferradios und ähnlichem zu entschuldigen, wenn man sagt, Ausländer hätten ein anderes Verhältnis zur Ordnung, schon wenn man das nur so ausspricht, leistet man jeder Fremdenfeindlichkeit Vorschub — bewußt oder unbewußt. Und das halte ich für kreuzgefährlich.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Ich will auch noch folgendes sagen: Es erschüttert mich tief, daß die ganze Diskussion auf einer falschen Schiene stattfindet. Sie ist nicht nur deshalb so falsch, weil sie Ausländerfeindlichkeit schürt; das ist schon ein großes Problem. Aber das andere große Problem ist — und das finde ich wirklich gefährlich — , daß sie Illusionen weckt. Sie führen hier eine Debatte, als ob Sie über Grundgesetzregelungen, über Visabestimmungen das Elend der Dritten Welt von dieser Welt fernhalten können.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das macht doch kein Mensch!)

Das ist eine Illusion. Wenn man der SED diesbezüglich etwas vorwerfen kann, dann dies: daß sie 40 Jahre Abschottungspolitik betrieben hat, die letztlich zu einer Katastrophe geführt hat. Ich warne Sie vor Ihren Vorstellungen von Abschottungspolitik. Es wird nicht aufgehen. Und wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern auch noch einreden, dann wären sie das Problem los, dann wecken Sie auch noch riesige Illusionen — neben dem Schüren von Ausländerfeindlichkeit.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP)

Machen Sie sich doch bitte einmal folgenden Gedanken: Was passiert denn an dem Tage, an dem an unseren Grenzen 500 000 oder 600 000 Menschen stehen? Sagen Sie schon hier und heute, was Sie dann zu tun gedenken! Mit Visabestimmungen werden Sie dieses Problem dann mit Sicherheit nicht lösen. Ich glaube, die Menschen in diesem Land haben ein Recht auf Antwort darauf.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ja, Frau Präsidentin. Ich finde auch, daß eine Debatte von einer Stunde völlig unzureichend ist. Ich bin der Meinung, wir müßten uns hier im Bundestag einen ganzen Tag damit beschäftigen. Ich bin weiter der Meinung, wir brauchen jetzt eine Kampagne — von der Bundesregierung finanziert, ähnlich wie die Anti-Aids-Kampagne — gegen Rassismus, Neofaschismus und Ausländerfeindlichkeit. Wir haben einen entsprechenden
Antrag eingebracht. Ein Letztes: Ich finde, wir Politikerinnen und Politiker sollten hier mutig und nicht populistisch voranschreiten. Bilden wir doch einmal einen Schutzschild vor einem solchen Wohnheim und sagen den Bürgerinnen
und Bürgern in diesem. Land: Wir lassen es nicht zu, daß Gewalt gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger angewandt wird — von wem auch immer!

(Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

 

FAZIT: Gregor Gysi weist darauf hin, dass Ausländerhass keineswegs eine ostdeutsche Erscheinung ist, sondern bundesweit Ausbruch fand. Er fordert, dass Diskussionen nicht gegen die „Ausländerschwemme“, sondern gegen Ausländerhass geführt werden muss und fordert die Politiker auf, mit persönlichem Einsatz für die Ausländer in Deutschland zu kämpfen. Erstaunlich, dass er damals sowohl von SPD und Bündnis 90/Grüne Beifall bekam, ebenso von der FDP.

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